Frühlingsphantasie

 

Heute wird ein besonderer Tag. Ich weiß es einfach. Ich spaziere unter den Kirschbäumen entlang zum Café. Es ist immer noch kühl, doch die Morgensonne wärmt bereits meinen Nacken. Ich kann es spüren, während ich meinen Schal lockere und die Pulswärmer von den Händen streife. Ich blinzele in das Geäst über mir und entdecke die ersten aufblühenden Knospen. Auch ich bin eine zarte Blüte, bereit, mich zu öffnen. Seit Tagen schon rieche ich den Frühling und er macht komische Dinge mit mir. Im Café ist ein neuer Kellner, seit einer Woche. Gar nicht mein Typ. In meinem Café! Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich zum ersten Mal durch die Tür gegangen war. Vor allem die Farben hatten mich sofort in ihren Bann gezogen. Helle freundliche Pastelltöne in wunderbarer Harmonie mit dem warmen Holz der Tische und Stühle und dem kratzigen Gold der Kerzenständer. Leise Musik, gedämpftes Gemurmel, ein Duft nach Kaffee und frisch gebackenem Brot. Ein Paradies inmitten grauer Stadttristesse, ein Ort zum Entspannen, zum Ein- und Ausatmen. MEIN Ort. Om.

 

Und jetzt ist da dieser Typ.

 

Er trägt seine Haare so unmöglich, dass es mir kalt den Rücken herunterläuft – an den Seiten ausrasiert und hinten hängt so ein Schwänzchen runter. Un-möglich. Seine Stimme ist laut und schreckt mich regelmäßig aus meiner Kaffeedufttrance oder meiner Konzentration, wenn ich versuche einen neuen Text zu verfassen. Emsig huscht er hin und her, ist zu allen freundlich und zuvorkommend. Ich mag keine Schleimer. Außerdem raucht er – ich hab ihn gesehen, draußen im Innenhof. Lässig steht er da mit seiner Kippe zwischen den Fingern und bläst den Rauch in die frische Morgenluft. Die Kirschbäume, die auch hier stehen, haben bestimmt schon eine Rauchvergiftung. Überhaupt – wie kann man nur – das schmeckt doch ekelhaft beim Küssen ... Hoppla! Verwirrt stehe ich vor dem Eingang zum Café und versuche, meine davongaloppierenden Gedanken einzufangen. Jetzt erst mal rein und ein nettes Plätzchen suchen. Das Glöckchen klirrt und mich empfängt die vertraute Stimmung. Heute ist noch eine Prise Frühling mit dabei.

 

Da in der Ecke, an dem Tisch mit den fliederfarbenen Kissen, ist noch was frei. Hier sitze ich besonders gerne, weil man alles gut beobachten kann. Und zur Inspiration natürlich. Irgendwoher müssen ja die Ideen für meine Geschichten kommen. Zufrieden lasse ich mich nieder und werfe den Blick aus, um meine Bestellung aufzugeben. Lisa, die nette junge Aushilfe, läuft an mir vorbei und ist bereits in der Küche verschwunden, bevor ich auch nur Piep sagen kann. Nun gut, ein neuer Versuch. Warm ist es hier. Ich ziehe an meinem Schal und bemühe mich, mir das Ungetüm vom Hals zu ziehen. Auf halbem Weg über meinem Kopf verheddern sich die breiten Stoffbahnen ineinander, ich zerre an ihnen, aber ich stecke fest. Jetzt mal ganz ruhig. Schön langsam. Meine Hände rudern über meinem Kopf um Hilfe, dann kriegen sie ein Stück Stoff zu fassen und so, Stück für Stück, ruckele ich den Schal von meinem Schädel herunter. Mit hochrotem Gesicht und völlig zerzauster Frisur tauche ich wieder auf und hole erst mal tief Luft.

 

„Na, was darf es denn heute sein?“ Eine viel zu laute, vertraute Stimme direkt neben meinem armen Ohr. Ich zucke zusammen. Oh Gott, wie seh´ ich denn aus?? Das darf jetzt nicht wahr sein. Aber es ist wahr. Der neue Kellner steht vor mir und lächelt mich aufmunternd an. Röter kann ich jetzt nicht mehr werden. Ich murmele etwas von Cappuccino und möchte mich mal eben in Luft auflösen. Leider passiert das nicht. Stattdessen werden meine Hände wieder hektisch und versuchen, in aller Eile Ordnung in das Gestrüpp auf meinem Kopf zu bringen. Mit einem „Sehr gerne!“ wendet sich der Kellner um und entschwindet in Richtung Theke. Gott sei Dank ist er weg. Wie heißt er überhaupt? Geht ja nicht, dass ich nicht mal seinen Namen kenne. In meinem Café! Als ich mich etwas beruhigt habe, packe ich mein Arbeitsbündel aus und beobachte, was mein Kaffee macht. Aha, mein Kellner höchstpersönlich steht an der Kaffeemaschine. Mein Kellner? Ich ärgere mich. Nichts liegt mir ferner, als mit diesem Typ irgendwie in eine nähere Beziehung zu treten. Er soll mir meinen Cappuccino machen und dann wieder gehen. Aber schön heiß, bitte. Daran werde ich ihn jetzt messen. Wenn er den Cappuccino nur lauwarm macht, dann ist er endgültig unten durch.

 

Ich spitze einen weichen roten Bleistift an und schiele zur Theke. Das dauert aber. Aha, endlich fertig. Mein Cappuccino kommt an meinen Tisch, mit galantem Schwung und untermalt von einem sonorem „Bitte sehr!“, in dem mein kühl geplantes Danke! sang- und klanglos untergeht. Ich murmele irgendwas in meinen nicht mehr vorhandenen Schal und meine Hände beweisen ein weiteres Mal ihr Eigenleben, indem die rechte hastig den Löffel greift und die linke verlegen am Ohrläppchen zupft. Am Nebentisch möchte jemand bezahlen und er ist schon wieder bei der Arbeit. Was ist nur mit mir los? Ich rühre in meiner Tasse und sehe zum ersten Mal, was da vor mir steht. Ich prüfe den Schaum – perfekt. Die Temperatur – perfekt. Und die Röstung schmeckt ganz neu. Versonnen nippe ich an dem köstlichen Getränk. Mein Kellner steht schon wieder an der Theke. Jetzt mal anfangen mit dem neuen Artikel. Ich kaue am Bleistift, lasse meinen Blick schweifen. Er steht immer noch da. Jetzt schaut er tatsächlich rüber und unsere Blicke treffen sich. Blöder Zufall. Ich schaue schnell wieder auf mein Papier, tue so, als wäre mir etwas eingefallen. Der Bleistift kratzt über das Papier.

 

Als ich wieder aufblicke, schaut er immer noch rüber. Oder schon wieder? Ich sollte meine Augen besser unter Kontrolle halten. Nicht, dass er noch was falsch versteht. Warum klopft jetzt mein Herz so schnell? Boa, ist das warm hier. Ich streife mir die Strickjacke von den Schultern. Ich sollte wirklich weniger Kaffee trinken. Tee ist viel gesünder. Aber andererseits – dieser Schaum! Und diese Röstung. Ich muss unbedingt rausfinden, was das für eine Sorte ist. Wo ist er denn jetzt? Aha, wieder rauchen. Von meinem gemütlichen Platz aus sehe ich ihn in dem winzigen Hof stehen. Mein Blick fällt auf seine schrille Frisur, wandert abwärts, die kantigen Schultern hinab und ruht mit Wohlgefallen auf seinem Hintern. Die Kirschbäume husten gar nicht. Ob auch sie beim seinem Anblick verstummt sind?

 

Eine Weile mühe ich mich mit meinem Artikel ab, doch es hat keinen Zweck – für heute fällt mir nichts mehr ein. Und draußen lacht die Sonne. Ich packe zusammen. Der Kellner hat es schon gesehen und kommt zu meinem Tisch. Meine Stimme scheint mich für immer verlassen zu haben, ich reiche ihm wortlos einen Zehner und erhalte mein Wechselgeld. Verdammte Schüchternheit! Er schaut mich einen Moment länger an als notwendig, nachdenklich. Dann reicht er mir den Kassenzettel mit meiner Rechnung, dreht sich um und verschwindet in Richtung Küche. Ein Kassenzettel? Ich schaue darauf. Heute Nachmittag um 15 Uhr Kaffee unterm Kirschbaum??

 

Draußen kichern die Kirschblüten in ihre Kelche.