Blütengeflüster

 

 Der Kuchen schmeckte seltsam. Irgendwie nach – Kirschblütenblättern. Martin fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wie dumm, dachte er. Ein Kuchen kann nicht nach Blüten schmecken. Und überhaupt, was tat er eigentlich hier, auf dieser Party, an diesem Buffet? Er hasste Kuchen! Und er hasste Partys! Trotzdem stand er hier, betrachtete die Teller und Platten mit den Nachspeisen und wunderte sich. Er musste für einen Moment weggetreten sein. Jetzt erinnerte er sich wieder, wo er war. Klaus und seine After-Work-Veranstaltungen. Er versuchte sie zu meiden, so oft es ging – doch sie arbeiteten seit einiger Zeit zusammen und er wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. So war er an diesem Nachmittag widerstrebend mitgegangen, zusammen mit der ganzen Abteilung. Alles war wie immer: der Wintergarten mit den üppigen Speisen und Getränken, die leise Jazzmusik, das höfliche, aber oberflächliche Geplauder der Kollegen.

 

Martin unterdrückte ein Gähnen. Er langweilte sich immer zu Tode bei diesen Zusammenkünften. Wie gerne wäre er jetzt zu Hause auf seinem gemütlichen Sofa mit einem guten Buch und einem Essen, das ihm wirklich schmeckte. Nicht wie dieser komische Kuchen, den er da erwischt hatte, und der immer noch angebissen auf seinem Teller lag. Ein Kirschblütenkuchen! Jetzt fiel ihm auf, dass er nicht nur den Duft einer japanischen Kirsche hatte, sondern auch die Form einer dieser rosa Blüten, die immer wie zu klein geratene Wattebäusche aussehen. Vielleicht hatte ihn diese Form unbewusst zu dem Stück greifen lassen. Er war ein Liebhaber japanischer Kunst. Sie war seine große Leidenschaft, die er jedoch geheim hielt - weil ihn dabei so zarte und erhabene Gefühle durchdrangen, das sie ihm fast unmännlich erschienen, in jedem Fall aber zu kostbar, um sie mit der Außenwelt zu teilen.

 

Während sein Verstand noch eine Erklärung dafür suchte, wie diese exotisch anmutende Speise auf den Buffettisch gekommen war, biss er wieder in den Kuchen, der leicht und luftig in seiner Hand lag. Kirschblüten – er konnte sie genau vor seinem geistigen Auge sehen. Wunderbare zerbrechliche Gebilde, fast unwirklich in ihrer Schönheit. Der bezauberndste Anblick, den die Natur in einer ihrer Frühlingslaunen hervorgebracht hatte. Fast so bezaubernd wie die Frau, die dort draußen im Garten stand. Sie trug ein langes Kleid, streng wie ein Kimono, und ihre glatten schwarzen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten, der glänzend ihren Rücken herabfiel. Sie stand unter dem großen Kirschbaum und betrachtete versunken die Blüten. Ein Kirschbaum? Martin blinzelte, rieb sich die Augen. Er gehörte wirklich ins Bett. Jetzt hatte er schon Visionen von Frauen unter Kirschbäumen. Vielleicht sollte er nicht so viel lesen. Doch die Frau war immer noch da. Sie wandte sich zu ihm um. Geräuschlos fiel ein halbes Stück Kirschkuchen, leicht wie eine Vogelfeder, zu Boden.

 

„Hat jemand Martin gesehen?“, fragte Klaus in die Restrunde, die sich langsam aufzulösen begann. „Keine Ahnung!“, meinte Conny. „Zuletzt stand er drüben am Buffet.“ Klaus trottete zu dem Tisch hinüber und verharrte einen Augenblick vor den traurigen, halb leer gegessenen Platten.

 

„Hier ist niemand“, rief er. „Nur ein Buch.“ Es lag aufgeschlagen zwischen den Tellern, ein kleines Buch. Klaus ging näher heran. Auf das seidige Papier war in feinen Schwüngen ein Kirschbaum hingezeichnet. Ein Mann und eine Frau standen darunter, die Hände verschlungen, die Gesichter so nah beieinander, dass sie fast miteinander verschmolzen.

 

Die geöffnete Terrassentür schlug leise auf und zu.